Unangemessene Präsentation von Kindern auf Elternprofilen
Auch wenn das Mindestalter zur Anmeldung im Social-Media-Dienst TikTok bei 13 Jahren liegt, finden sich dort bereits Darstellungen von Kindern ab dem Säuglingsalter bis hin zur Vorpubertät. Die Jüngsten haben meist keinen eigenen Account, werden jedoch häufig in den Beiträgen ihrer Eltern gefeatured. jugendschutz.net ist auf Videos gestoßen, in denen junge Kinder gemeinsam mit ihren Eltern zu sexuell konnotierten Audiospuren lippensynchron nachsprechen und singen, weil es die Erwachsenen witzig finden. Solche Darstellungen können dazu führen, dass die sexuelle Präsentation von Kindern normalisiert wird. Die Wahrung des Kindeswohls liegt grundsätzlich im Verantwortungsbereich der Sorgeberechtigten, wodurch sich dann ein Spannungsverhältnis auftut, wenn die Rechte der Kinder potentiell missachtet werden.
Von Ballermann-Texten und anzüglichen Witzen: Kinder in TikToks mit sexuellen Bezügen
Auf TikTok findet sich eine Vielzahl an Beiträgen, in denen User:innen Lieder lippensynchron nachsingen. Darunter finden sich auch solche Videos, in denen Eltern gemeinsam mit ihren Kindern zu Liedern performen, deren Texte sexuelle Bezüge aufweisen, wie beispielsweise bei den aktuellen Ballermann-Hits „Layla“ oder „Olivia“. Darin heißt es unter anderem „gehst mit jedem in die Kiste“ und „zeigst jedem deine Brüste“. Gleichzeitig führen Erwachsene und Kinder den Textstellen angepasste Bewegungen aus, indem sie zum Beispiel auf ihre Brüste zeigen oder diese anfassen.
Auch gemeinsame Lipsync-Aufnahmen zu Songs von Katja Krasavice werden geteilt. Eltern und Kinder singen hier zu Textstellen wie “komm ich reit dich wie im Rodeo. Und ich halt mich an dir fest. Alles was ich will ist Sex” lippensynchron mit. Bei einer Vielzahl dieser Beiträge ist davon auszugehen, dass den Kindern die Bedeutung der Inhalte nicht klar ist.
Darüber hinaus werden gesprochene Audiospuren zur Lippensynchronisation genutzt. jugendschutz.net stieß auf einen Sound, in dem ein Dialog zwischen einer erwachsenen Frau und einer Kinderstimme zu hören ist.
Auf die Frage der Frau „gibst du der Mama einen Kussi?“, antwortet die Kinderstimme: „Nein, du hattest Papas Pullermann im Mund!“. Zu dem Sound finden sich mehr als tausend Videos auf TikTok. Darunter auch solche, in denen Mütter mit ihren Kindern die Tonaufnahme lippensynchron und in verteilten Rollen mitsprechen. Auch die Väter der Kinder sind zum Teil im Bild zu sehen. Die Eltern passen Mimik und Gestik an die Audiospur an, beispielsweise indem sie nach der Antwort des Kindes ein überraschtes oder erschrockenes Gesicht machen. Zudem wird der Sound in Videos genutzt, in denen Kleinkinder gezeigt werden. Da diese noch nicht sprechen können, findet hier keine Lippensynchronisation statt. So wird die Audioaufnahme beispielsweise unter das Video eines Kleinkindes gelegt, das einen Einkaufswagen schiebt.
Fragwürdiger Fame: Eltern ernten Applaus durch die Community
Die Darstellungen werden durch die Erziehenden auf ihren öffentlich einsehbaren Accounts geteilt. Verglichen mit anderen Inhalten auf diesen Profilen erhalten sie oftmals eine überdurchschnittlich hohe Reichweite und werden zum Teil millionenfach aufgerufen. Hashtags wie #fy oder #goviral und das Benutzen der angesagten Sounds tragen zur weiteren Verbreitung bei und legen die Vermutung nahe, dass den Eltern auch an einer solchen Reichweite gelegen ist.
Sowohl unter den gesungenen als auch den gesprochenen Lippensynchronisationen finden sich viele Reaktionen anderer User:innen. Diese zeigen sich belustigt und begeistert und schlagen z.B. Lieder für weitere Aufnahmen vor. Jedoch gibt es auch abwertende Kommentare, in denen Eltern und auch die Kinder verspottet werden. Zudem findet sich Kritik an den hochladenden Eltern für das Präsentieren ihrer Kinder. Dass sie mit ihren Videos provozieren und polarisieren, ist den postenden Eltern dabei durchaus bewusst: Postings werden mit den Worten “Lassen wir den Hate beginnen” versehen. Kritische Anmerkungen werden sarkastisch kommentiert oder schlicht entfernt.
Kindervideos: Eltern im Konflikt zwischen Schutzauftrag und persönlichen Interessen
Auch wenn Kinder gemeinsame Aktivitäten wie das Aufnehmen von Lipsync-Videos mit den Eltern als spaßig erleben – durch das Teilen auf Social Media werden sie einer unüberschaubaren Öffentlichkeit preisgegeben. Damit einhergehende Folgen und Konsequenzen sind insbesondere für jüngere Kinder noch nicht zu ermessen: Zum einen könnten Menschen mit sexuellem Interesse an Kindern durch die Videos angezogen werden, zum anderen könnten die Protagonist:innen der Beiträge jetzt oder später Spott und Häme ernten.
Daher kommt den Sorgeberechtigten die Aufgabe zu, das Wohl des Kindes zu wahren. Diese Aufgabe kann im Konflikt mit den sozialen und persönlichen Interessen der Eltern stehen, zum Beispiel dann, wenn sie insbesondere für solche Kindervideos auf ihren Profilen positives Feedback bekommen und damit ihre Reichweite erhöhen.
In den hier beschriebenen Beispielen sieht jugendschutz.net Indizien dafür, dass mindestens das Recht auf Selbstdarstellung der Kinder angetastet wird. Insbesondere bei jüngeren Kindern ist davon auszugehen, dass ihnen die sexualisierte Aussage der Videos bzw. deren mögliche sexualisierte Deutung nicht oder nicht im vollen Umfang bewusst ist. Was für Erwachsene amüsant erscheint, kann bei ihnen Schamgefühle verletzen – heute oder bei späterer Betrachtung. Womöglich liefern die Aufnahmen in einigen Jahren Munition für öffentlichen Spott und Mobbing. Bereits heute sehen sich die Protagonist:innen den Kommentaren von Nutzer:innen ausgesetzt. Können Kommentare unter den Originalvideos durch die hochladenden Eltern noch moderiert werden, ändert sich dies durch die Verwendung der Aufnahmen in Duetten und Stitches. Die Videos verbreiten sich dann unkontrolliert weiter.
Mit der Reichweite der Videos steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass ältere Kinder und Jugendliche diese vermehrt wahrnehmen und von der Art der Präsentation eine gewisse Normalität und Akzeptanz ableiten, insbesondere wenn die Videos durch Likes und Kommentare anderer User:innen zusätzlich positiv honoriert werden. Es ist zu vermuten, dass dies langfristig auch Auswirkungen auf die Sicht- und Handlungsweisen der Rezipierenden haben kann, wie z. B. auf die Fähigkeiten zu einer grenzwahrenden Kommunikation, die z. B. auch die Abwehr gegen sexuelle Übergriffe und Belästigung einschließt.
Eltern sollten dafür sensibilisiert werden, Erwachsenensexualität nicht unreflektiert auf ihre Kinder zu übertragen. Generell sollten sie mit dem Teilen von Beiträgen ihrer Kinder reflektiert umgehen. Es ist wichtig, Kinder nicht durch peinliche Aufnahmen zu blamieren. Eltern sollten mit ihren Kindern über die geteilten Inhalte im Gespräch bleiben und ihrem Tun deren Recht auf Selbstbewahrung und Selbstdarstellung zugrunde legen.
Die Anbieter der Social-Media-Dienste könnten Eltern bei dieser Aufgabe unterstützen, indem sie für die Problematik sensibilisieren. Aufklärungskampagnen könnten hier einen ebenso wichtigen Beitrag leisten wie klare Richtlinien, die eine Wahrung der Rechte der Kinder priorisieren und fördern.